BSG Urteil B 12 KR 37/19 R vom 01.02.2022 und BSG Urteil B 12 KR 16/20 R vom 13.12.2022

Was für Mitarbeiter im eigenen Unternehmen jahrzehntelang gang und gäbe war, galt seit November 2015 plötzlich nicht mehr: Gesellschafter-Geschäftsführer und Arbeitnehmergesellschafter, die eigenverantwortlich ihre soziale Absicherung regelten, sei es durch Lebensversicherungen, private Krankenversicherung oder Vermögensrücklagen, wurden durch die November-Urteile des Bundessozialgerichts in die gesetzliche Rentenversicherung gezwungen. Die daraufhin einsetzende Welle von Beitragsnachforderungen der Deutsche Rentenversicherung Bund hat viele Familienunternehmen schmerzhaft getroffen. Die von den GmbHs eingeforderten Nachzahlungen sollen mittlerweile die Milliardenschwelle überschritten haben. Nachdem sich seither viele Familienunternehmen und ihre Steuerberater auf die neue rechtliche Situation eingestellt haben, droht erneut Ungemach. Das Bundessozialgericht meldet sich zurück und zieht die Beitragsschlinge für Gesellschafter- Geschäftsführer noch enger.

Dr. Rolf Stagat

Autor: Dr. Rolf Stagat
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1. Selbständigkeit und Sozialversicherungspflicht

Jahrzehntelang mussten sich mitarbeitende Gesellschafter um die Beteiligungsverhältnisse in ihrer Gesellschaft nicht zu kümmern. Sie konnten sicher sein, von den Sozialversicherungsträgern nicht zu Beitragszahlungen herangezogen zu werden. Auch wer nur eine geringe Minderheitsbeteiligung am Familienunternehmen hielt oder gar nicht beteiligt war und nur als Fremdgeschäftsführer im elterlichen Unternehmen arbeitete, blieb beitragsrechtlich verschont. Um der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen zu entgehen reichte es aus, wegen „familienhafter Rücksichtnahme“ nicht wie ein beschäftigter Arbeitnehmer behandelt zu werden oder „Know-how-Träger“ oder „Kopf und Seele“ des Betriebs zu sein. Die Sozialversicherungsträger gingen dann nicht von einer „Beschäftigung“ im Unternehmen aus, sondern von selbständiger Tätigkeit mit der Folge, dass die Geschäftsführer und Gesellschafter ihre Vorsorge selbst gestalten konnten.

2. Die November-Urteile des Bundessozialgerichts

Der 11. November 2015 brachte einen Paukenschlag für die Praxis der Sozialversicherung. Der Status von mitarbeitenden Gesellschaftern und Geschäftsführern wurde durch drei Urteile des BSG („Novemberurteile“) einer völlig neuen Betrachtung unterzogen.  Geschäftsführer und Gesellschafter, die ihr Unternehmen bisher als Geschäftsführer mit oder ohne Gesellschafterstellung selbstständig geführt hatten, wurden nun als abhängig Beschäftigte eingeordnet. Sie wurden dadurch in die gesetzliche Sozialversicherung hineingezwungen und ihre Gesellschaft musste Beiträge an die Deutsche Rentenversicherung Bund abführen. Auch wer bisher als Geschäftsführer und Mitinhaber seines Unternehmens die Arbeitgeberfunktion gegenüber den Mitarbeitern ausgeübt hatte, wurde zum abhängig Beschäftigten. Als selbstständig wurde nur noch akzeptiert, wer kraft seiner Rechtsmacht als Gesellschafter unliebsame Beschlüsse der Gesellschafterversammlung gegen sich abwehren konnte. 

3. Abwehrstrategien

Um den Beitrags(nach-)zahlungen zu entgehen wurden unterschiedliche Abwehrstrategien entwickelt. Durch die Gestaltung von Gesellschaftsvertrag und Geschäftsführervertrag sowie Stimmbindungsverträge versuchte man, eine persönliche Abhängigkeit von unliebsamen Weisungen der Gesellschafterversammlung zu vermeiden und die beitragsfreie Selbstständigkeit zu erhalten. Das Bundessozialgericht räumte jedoch sämtliche Vermeidungsmodelle ab. Auch Vetorechte bei qualifizierten Beschlussmehrheiten im Gesellschaftsvertrag wurden vom BSG nur noch anerkannt, wenn sie uneingechränkt gelten und nicht lediglich für einzelne Beschlussgegenstände (partielles Vetorecht).  Dass Fremdgeschäftsführer stets abhängig beschäftigt und somit sozialversicherungspflichtig sind, stellte das Bundessozialgericht mit einem Urteil vom 14.03.2018 klar. Sicher vor Beitragsforderungen konnten sich Geschäftsführer und mitarbeitende Gesellschafter nur noch wähnen, wenn sie mit mindestens 50 % an ihrer Gesellschaft beteiligt waren.

4. Neue Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 1.2.2022 und 13.12.2022

Familienunternehmer in ganz Deutschland sind mit den Folgen der November- Urteile des Bundessozialgerichts konfrontiert worden. Viele mussten hohe Beiträge nachzahlen, manche stellten sich auf die neue Rechtsprechung ein. Meist wurden sie von ihren Steuerberatern, die üblicherweise mit der Anmeldung der Mitarbeiter zur Sozialversicherung befasst sind, auf den Änderungsbedarf hingewiesen. So wurden statutarische Vetorechte, qualifizierte Beschluss Mehrheiten oder eine Änderung der Beteiligungsverhältnisse eingeführt, um den Gesellschaftergeschäftsführern die vom Bundessozialgericht verlangte Rechtsmacht zu verleihen, unliebsame Beschlüsse der Gesellschafterversammlung zu verhindern. Doch kaum hat man sich auf diese Situation eingerichtet, meldet sich das Bundessozialgericht zurück. Mit neuen Entscheidungen verfolgt es sein Ziel, möglichst viele Beitragszahler in die gesetzliche Sozialversicherung zu zwingen, weiter:

a) BSG Urteil vom 01.02.2022

Dem Urteil vom 01.02.2022   liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger ist mit 49 % am Stammkapital seiner GmbH beteiligt und ihr einziger Ge-schäftsführer. Einzelne im Gesellschaftsvertrag aufgelistete Angelegenheiten bedürfen zur Beschlussfassung einer qualifizierten Mehrheit von 75 % der Stimmen, im Übrigen genügt die einfache Mehrheit. Außerdem ist dem Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag für die Dauer seiner Beteiligung das Sonderrecht eingeräumt, Geschäftsführer der Gesellschaft zu sein oder einen solchen zu benennen. Das Bundessozialgericht sieht den Gesellschafter- Geschäftsführer in dieser Konstellation nicht als selbstständigen Unternehmer an, sondern als abhängig Beschäftigten und führt zur Begründung aus:

Der selbständig tätige Gesellschafter-Geschäftsführer muss in der Lage sein, einen maßgeblichen Einfluss auf alle Gesellschafterbeschlüsse auszuüben und dadurch die Ausrichtung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens umfassend mitbestimmen zu können. Ohne diese Mitbestimmungsmöglichkeit ist der Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer nicht im „eigenen“ Unternehmen tätig, sondern in weisungsgebundener, funktionsgerecht dienender Weise in die GmbH als seine Arbeitgeberin eingegliedert.

 Die Tätigkeit ist nur dann unternehmerisch, wenn er auf alle wesentlichen Grundlagenentscheidungen Einfluss nehmen kann. Der Gesellschafter-Geschäftsführer muss daher Gewinnchancen und Unternehmensrisiken mitbestimmen und damit auf die gesamte Unternehmstätigkeit einwirken können. Dazu gehört insbesondere die dem Unternehmenszweck Rechnung tragende Bilanz-, Finanz-, Wirt-schafts- sowie Personalpolitik.

In den Urteilsgründen weist das Gericht darauf hin, dass es bisher entschieden habe, ein selbstständiger Gesellschafter-Geschäftsführer müsse „zumindest“ ihm nicht genehme Wei-sungen der Gesellschafterversammlung verhindern können. Mit dieser Formulierung sei die erforderliche Rechtsmacht aber weder auf die ablehnende Haltung des Minderheitsgesell-schafter-Geschäftsführers nur gegenüber Weisungsbeschlüssen der Gesellschafterversammlung reduziert noch auf dessen gewöhnliche Geschäftsführung eingeengt worden. Damit sagt das BSG zwar noch nicht eindeutig, dass es für eine unabhängige Tätigkeit im eigenen Unternehmen nicht mehr ausreicht, mit einer 50 % Beteiligung oder einer Sperrminorität unliebsame Entscheidungen der Gesellschafterversammlung verhindern zu können. Es deutet aber sehr klar und deutlich an, dass es für den Status als sozialversicherungsfreier Selbstständiger nun der rechtlichen Möglichkeit bedarf, das Unternehmen durch die Herbeiführung von Entscheidungen in der Gesellschafterversammlung aktiv steuern zu können und das bloße Verhindern der Steuerung durch andere Gesellschafter nicht mehr ausreicht. Das BSG folgt auch nicht dem Argument des Klägers, er könne aufgrund seiner Sonderrechts von der Gesellschafter-versammlung nicht abberufen werden, sodass es sanktionslos bleibe, wenn er Weisungen der Gesellschafterversammlung nicht beachte.

b) BSG Urteil vom 13.12.2022

In dieselbe Richtung deuten die neuesten Entscheidungen des BSG zum Status von Gesell-schafter-Geschäftsführern. Im Verfahren über die Klage eines mit 50 % beteiligten GmbH-Gesellschafters steht im Terminbericht zur Verhandlung vom 13.12.2022:

Auch bei der Statusbeurteilung eines Gesellschafter-Geschäftsführers kommt es nicht allein auf dessen Weisungsfreiheit im eigenen Tätigkeitsbereich an. Vielmehr muss dieser auch in der Lage sein, auf die Ausrichtung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens insgesamt Einfluss zu nehmen und damit die GmbH wie ein Unternehmensinhaber zu lenken. Andernfalls ist er nicht im „eigenen“ Unternehmen tätig, sondern in funktionsgerecht dienender Weise in die GmbH als seine Arbeitgeberin eingegliedert.

Die „Rechtsmacht“ zur Verhinderung unliebsamer Weisungen bekommt demzufolge eine neue Bedeutung: die bloße Möglichkeit, Mehrheitsentscheidungen der Gesellschafter verhindern zu können, reicht nicht mehr aus. Das führt dazu, dass nunmehr auch Geschäftsführer, die eine Mehrheitsbeteiligung an ihrer Gesellschaft halten, der Sozialversicherungspflicht unterliegen, wenn ihrer Stimmenmehrheit Vetorechte oder Sperrminoritäten anderer Gesellschafter entgegenstehen.

5. Bedeutung der neuen Rechtsprechung für die Praxis

Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts 1. Februar und 13. Dezember 2022 führen zu neuer Unsicherheit bei der Beurteilung des sozialversicherungsrechtlichen Status von Gesellschafter-Geschäftsführern. Noch ist nicht sichtbar, welche Konsequenzen die Betriebsprüfer der Deutsche Rentenversicherung Bund aus den neuen Urteilen ziehen werden. Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH müssen sich aber darauf einstellen, dass ihr Status ab jetzt noch kritischer geprüft wird. Soll sichergestellt werden, dass die Gesellschafter-Geschäftsführer ihre soziale Absicherung weiterhin eigenverant-wortlich auf privatrechtlicher Grundlage gestalten können, empfiehlt sich eine sorgfältige rechtliche Prüfung dringender denn je.

6.Die Urteile im Wortlaut

Den Wortlaut der Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 1. Februar 2022 und 13. Dezember 2022 finden Sie hier:

  • B 12 KR 37/19 R – Urteil vom 01.02.2022
  • B 12 KR 16/20 R – Urteil vom 13.12.2022 (noch nicht veröffentlicht; Link wird aktualisiert)

 

Das Beratungsangebot von GKD Rechtsanwälte im Sozialversicherungsrecht

Ein sozialversicherungsrechtliches Standardproblem ist beim Gesellschafter-Geschäftsführer die Abgrenzung zwischen freiem und somit sozialversicherungsfreiem Unternehmer und abhängig beschäftigtem und damit sozialversicherungsbeitragspflichtigem Organ. GKD Rechtsanwälte verfügt hierbei über langjährige Erfahrung in der Vertretung seiner Mandanten. Um unangenehme Ergebnisse zu vermeiden berät GKD Rechtsanwälte Unternehmen in Konstanz und in Freiburg bereits im Vorfeld einer Prüfung. Natürlich unterstützen Sie unsere erfahrenen Rechtsanwälte Sie aber auch in sozialversicherungsrechtlichen Widerspruchsverfahren oder in Gerichtsverfahren vor den Sozialgerichten.

Für alle Fragen rund um das Sozialversicherungsrecht stehen Ihnen unsere Anwälte Dr. Rolf Stagat, Thomas Zürcher, LL.M., sowie Herr Rechtsanwalt Dr. Stefan Jäkel sehr gerne zur Verfügung.

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